Wir alle wissen, dass die Strahlung in einer Mikrowelle gefährlich ist, weil man damit kochen kann. Außerdem ist es offensichtlich unsicher, sich direkt neben einem Mobilfunkmast auf dem Dach eines Gebäudes aufzuhalten. Aber wie viel ist zu viel?

In den meisten westlichen Ländern basieren Grenzwerte für hochfrequente elektromagnetische Strahlung wie von Mobilfunkmasten, Handys und WLAN sowie für niederfrequente magnetische Felder wie von Stromleitungen und Elektroautos auf den sogenannten ICNIRP-Grenzwerten (HF, NF). ICNIRP steht kurz für die International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung) und ist, anders als der Name vermuten lässt, eine private Stiftung mit Sitz in München. Ihre Aufgabe ist es, wissenschaftlich fundierte Grenzwerte für elektromagnetische Strahlung zu erarbeiten. Aber ist sich die Wissenschaft überhaupt darüber einig, welche Grenzwerte uns vor gesundheitlichen Schäden schützen?

ICNIRP EMF-Grenzwerte: von 17 Autoren kontrollierte Literatursammlung

Das Fazit der investigativen Journalisten von Investigate Europe in ihrem Artikel „How much is safe? Radiation authorities rely on controversial group for safety advice“ ist nicht gerade beruhigend. Sie interviewten die Forscher Nordhagen und Flydal, die eine kritische Überprüfung der ICNIRP-Grenzwerte von 2020 in der Wissenschaftszeitung „Reviews on Environmental Health“ veröffentlichten. Ihre Analyse ergab, dass die Fachliteratur für die ICNIRP-Grenzwerte von 2020 von einem Autorenkreis mit nur 17 Wissenschaftlern im Kern stammt, von denen die meisten selbst mit der ICNIRP in Verbindung stehen. Die Bandbreite der Erstautoren vermittelt den falschen Eindruck einer breiten Unterstützung. Bei wissenschaftlichen Publikationen gibt es in der Regel einen 1. Autor, 2. Autor usw. bis hin zum Letztautor. Der 1. Autor übernimmt die Schreib- und Recherchearbeit, der Letztautor ist der „Chef“, z. B. der Professor. Der Punkt ist also laut Nordhagen und Flydal, dass die ICNIRP mit vielen verschiedenen, austauschbaren, temporären Erstautoren arbeitet, die jedes Mal unter denselben „Chefs“ stehen. Darüber hinaus sind an allen angegebenen Metastudien (wissenschaftliche Untersuchungen, die mehrere vorhandene Studien auswerten) Autoren der ICNIRP-Grenzwerte von 2020 selbst beteiligt, obwohl die Studien so dargestellt werden, als ob sie von unabhängigen Gremien stammen würden. Des Weiteren werden angegebene Publikationen, die nicht aus dem ICNIRP-Autorenkreis stammen, nicht weiter berücksichtigt, irreführend als Bekräftigung der ICNIRP-Grenzwerte von 2020 ausgelegt oder erfüllen in Wirklichkeit keine wissenschaftlichen Kriterien.

Wichtige wissenschaftliche Studien fehlen in der ICNIRP-2020

Die ICNIRP-Grenzwerte basieren hauptsächlich auf akuten Erwärmungseffekten: mehr als 1 °C Temperaturanstieg im Gewebe. Biologische Folgen wie DNA-Schäden bei Strahlungswerten weit unterhalb dieser Erwärmungsgrenze wurden vernachlässigt, sind jedoch inzwischen in Hunderten von Studien hinlänglich nachgewiesen. Im Jahr 2016 untersuchte der Forscher Starkey die ICNIRP-Grenzwerte. (Quelle: Inaccurate official assessment of radiofrequency safety by the Advisory Group on Non-ionizing Radiation, in Rev. Environ. Health.) Es stellte sich heraus, dass 40 Studien, die DNA-Schäden aufzeigten, einfach fehlten. Ebenso wie 40 Studien, die zeigten, dass elektromagnetische Strahlung freie Radikale im Körper bildet. Und 22 Studien, die Auswirkungen auf die männliche Fruchtbarkeit zeigten. Somit hat sich die ICNIRP die günstigsten Studien herausgepickt. Es scheint auch, dass ICNIRP-Mitglieder verschiedene Interessenkonflikte und Doppelrollen haben und dass die Finanzierung der ICNIRP nicht vollständig transparent ist.

Wissenschaftler Hardell aus Schweden, Mitglied des IARC-Komitees der WHO, äußerte sich vernichtend über die ICNIRP. Er meinte, zusammenfassend zeige dieser Artikel, dass die EU mit der ICNIRP einer 13-köpfigen, nichtstaatlichen privaten Gruppe das Mandat erteilt habe, über die HF-Strahlungsrichtlinien zu entscheiden. Sowohl die ICNIRP als auch der SCENIHR verwenden nachweislich nicht die fundierte Bewertung der Wissenschaft über die schädlichen Auswirkungen von HF-Strahlung, die in der Forschung dokumentiert ist … Diese beiden kleineren Organisationen würden Berichte erstellen, die die Existenz wissenschaftlicher Berichte zu Risiken zu leugnen scheinen. Quelle: Appeals that matter or not on a moratorium on the deployment of the fifth generation, 5G, for microwave radiation, L. Hardell & R. Nyberg, MOLECULAR AND CLINICAL ONCOLOGY, 3 Jan 2020.

Kritik an der ICNIRP vonseiten des Europarats

Der Europarat kam in seiner „Stellungnahme zu Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit elektromagnetischen Feldern“ zu folgendem Fazit:

29. Der Berichterstatter betont in diesem Zusammenhang, dass es höchst merkwürdig ist, gelinde gesagt, dass die geltenden offiziellen Grenzwerte zur Begrenzung der gesundheitlichen Auswirkungen extrem niederfrequenter elektromagnetischer Felder und hochfrequenter Wellen von der ICNIRP, einer NGO, erstellt und internationalen politischen Institutionen (WHO, Europäische Kommission, Regierungen) vorgeschlagen wurden, deren Herkunft und Struktur nicht allzu eindeutig ist und die darüber hinaus im Verdacht steht, enge Verbindungen zur Industrie zu haben, deren Wachstum von Empfehlungen für maximale Grenzwerte für die verschiedenen Frequenzen elektromagnetischer Felder abhängt.

30. Wenn sich die meisten Regierungen und Sicherheitsbehörden lediglich damit begnügt haben, die von der ICNIRP befürworteten Sicherheitsempfehlungen zu kopieren und zu übernehmen, so hat dies im Wesentlichen zwei Gründe:

  • um die Verbreitung dieser neuen Technologien mit ihren Aussichten auf Wirtschaftswachstum, technologischen Fortschritt und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht zu behindern;
  • und weil die politischen Entscheidungsträger bei Fragen zu technologischen Risiken für Umwelt und Gesundheit leider noch wenig eingebunden sind.

Siehe auch:

The ICNIRP Cartel and the 5G Mass Experiment – Joel M. Moskowitz, Ph.D., Director of Center for Family and Community Health, School of Public Health, University of California, Berkeley

World Health Organization, radiofrequency radiation and health – a hard nut to crack (Review) – Lennart Hardell, Int J Oncol. 2017 Aug; 51(2): 405–413.

Immer mehr Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Kinderleukämie und Stromleitungen – aber ICNIRP erhöht die Grenzwerte

Wie das niederländische Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt (Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu, kurz RIVM) in seinem Bericht 610050007 schreibt, gibt es bereits zehn epidemiologische Studien, die einen Zusammenhang zwischen Magnetfeldern von Hochspannungsleitungen/Transformatoren und Leukämie bei Kindern zeigen. Aus diesem Grund veröffentlichte das RIVM bereits im Jahr 2005 eine Empfehlung mit stark reduzierten Grenzwerten für Wohngebäude unter Hochspannungsleitungen von 400 nT. Im Jahr 2017 kaufte die niederländische Regierung Hunderte von Häuser auf, die unter Hochspannungsleitungen erbaut wurden. (Siehe unseren Artikel Dutch State purchases 1300 households living under high voltage cable, auf Niederländisch). Aber was hat die ICNIRP getan? Im Jahr 2010 hat sie sogar den Grenzwert für Magnetfelder von 100.000 auf 200.000 nT angehoben. Die Kinder-Leukämie-Studien wertete sie als nicht ausreichend fundiert ab.

Siehe auch Comparison of international policies on electromagnetic fields 2018 (Niederländisches Ministerium für Gesundheit, Gemeinwohl und Sport)

SBM-Grenzwerte basieren auf Erfahrungen von Menschen

Welche Leitlinien sind nun zu verwenden? Bereits 1992 wurde in Deutschland der Standard der baubiologischen Messtechnik (SBM) von Pionieren auf dem Gebiet der sogenannten Baubiologie erarbeitet, die das gesunde Bauen und Wohnen in den Mittelpunkt stellen. 2015 wurde dieser Standard weiter spezifiziert. Die SBM-Grenzwerte von 2015 basieren auf den Erfahrungen der Menschen. Man kann sie sich als „Benchmark“ vorstellen – als Maßstab, der aus Sicht der Gesundheit und nicht der Industrie angesetzt wird. Die SBM-Grenzwerte von 2015 gingen aus zehntausenden Messungen, internationaler Forschung und über 25 Jahren praktischer Erfahrung von (schulmedizinischen und alternativen) Ärzten und Patienten hervor. Die SBM-Grenzwerte von 2015 stellen eine Richtlinie dar, die (noch) nicht von Regierungen akzeptiert wurde und daher rechtlich nicht verbindlich ist. Die offiziellen Grenzwerte gemäß ICNIRP-2020 sind mehrere tausend Mal höher.

Standard der baubiologischen Messtechnik SBM-2015

Messtechnische Randbedingungen, Erläuterungen und Ergänzungen zum SBM-2015

Baubiologischer Standard – (s)eine Geschichte

Die oben genannten SBM-Grenzwerte werden von der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) ungeachtet der viel höheren offiziellen ICNIRP-Grenzwerte für direkte Folgeerscheinungen empfohlen. Die ÖÄK vertritt gesetzlich die beruflichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen aller österreichischen Ärzte und Ärztinnen. Siehe 2012 Leitlinie der OÄK zur Abklärung und Therapie EMF-bezogener Beschwerden und Krankheiten (EMF-Syndrom) (Seite 9). Auch die Österreichische Ärztekammer hat gemeinsam mit der Telekommunikationsbranche und der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) eine Richtlinie für die Installation von Rundfunkanlagen erarbeitet (Oktober 2014).

Wir müssen uns entscheiden, ob die Strahlenwerte von elektromagnetischen Feldern anhand der offiziellen (und äußert hohen) ICNIRP-Grenzwerte bewertet werden sollten oder ob Vorsorgerichtlinien wie SBM-2015 eingehalten werden sollten. In Fällen, in denen Menschen Bedenken oder sogar gesundheitliche Beschwerden haben, beantwortet die bloße Beruhigung auf der Grundlage von ICNIRP-2020 diese Frage nicht.

Die folgende Tabelle zeigt die Unterschiede zwischen staatlichen und baubiologischen Standards.

Niederfrequentes elektrisches Wechselfeld [Volt pro Meter (V/m)] Niederfrequentes magnetisches Wechselfeld [nanoTesla (nT)] Hochfrequente elektromagnetische Strahlung [Mikrowatt pro Quadratmeter (µW/m²)]
SBM: Zielwerte <1 <20 <0,1
SBM: schwache Abweichung 1-5 20-100 0,1-10
SBM: starke Abweichung 5-50 100-500 10-1000
SBM: extreme Abweichung >50 >500 >1000
ICNIRP 5000 200.000 2–10 Millionen

Quelle: Verband Baubiologie

  1. Guidelines for Limiting Exposure to Electromagnetic Fields (100 kHz to 300 GHz), International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP), Health Physics: May 2020 – Volume 118 – Ausgabe 5 – S. 483-524.
  2. Else K. Nordhagen und Einar Flydal, „Self-referencing authorships behind the ICNIRP 2020 radiation protection guidelines“, Reviews on Environmental Health, https://doi.org/10.1515/reveh-2022-0037
  3. S.J. Starkey, „Inaccurate official assessment of radiofrequency safety by the Advisory Group on Non-ionising Radiation“, Rev. Environ Health 2016; 31(4): 493–503.
  4. L. Hardell & R. Nyberg, „Appeals that matter or not on a moratorium on the deployment of the fifth generation, 5G, for microwave radiation“, Molecular and Clinical Oncology, 3. Jan. 2020.
  5. M. van der Plas, D.J.M. Houthuijs, A. Dusseldorp, R.M.J. Pennders en M.J.M. Pruppers, RIVM, „Rapport 610050 007“, April 2001.
  6. Europäischer Rat, „Stellungnahme zu Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit elektromagnetischen Feldern (12608)“, 6. Mai 2011.
  7. Institut für Baubiologie + Nachhaltigkeit IBN Maes, „Standard of Building Biology Testing Methods (SBM) 2015“, 2015.
  8. ÖÄK, Leitlinie der OÄK zur Abklärung und Therapie EMF-bezogener Beschwerden und Krankheiten (EMF-Syndrom), 2012.
  9. Joel M. Moskowitz, Ph.D., „The ICNIRP Cartel and the 5G Mass Experiment“, University of California, Berkeley, 2018.